Stuttgart – Wenn die Bagger am Nordbahnhof längst abgezogen sind, Einkaufszentren den Stuttgartern den Shoppinghimmel auf Erden bescheren, Kinofilme in 2-D nur noch im Museum gezeigt werden und ich meine Enkel auf dem Schoß sitzen habe – dann werde ich ihnen eine Geschichte erzählen. Ein Stuttgarter Märchen.
Es waren einmal ein paar Künstler. Sie hatten eine Vision, die Vision eines freien Zusammenarbeitens und -lebens. Sie gründeten einen Verein, mieteten ein altes Arbeiterwohnheim der Deutschen Bahn am Stuttgarter Nordbahnhof und kauften zwanzig ausrangierte Eisenbahnwaggons. Darin richteten sie sich Ateliers, Wohnräume und eine Bar ein. Und weil sie fanden, dass es schön war, wie sie lebten, und weil sie stolz auf ihre Arbeit waren, luden sie Freunde und Bekannte ein. Und weil den Freunden und Bekannten gut gefiel, was sie dort sahen, luden sie weitere Freunde und Bekannte ein.
Und weil denen die bunte Welt am Nordbahnhof genauso gut gefiel, freuten sich die Künstler und vergrößerten ihr leuchtendes Paradies im Schatten eines Schrottplatzes weiter und weiter. Sie feierten größere und buntere Feste, zu denen mehr und mehr Menschen kamen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann verwirklichen sie ihn noch immer, ihren bunten Künstlertraum einer besseren Welt.
Oma, werden meine Enkelkinder dann fragen, gehst du da mal mit uns hin? Das geht leider nicht, werde ich antworten.
Am 14. Januar 2011 bekomme ich eine E-Mail. Mit drei Ausrufezeichen. „Hallo Simone, ab jetzt gilt offiziell: Die Waggons am Nordbahnhof sind auf Ende dieses Monats gekündigt!!!“ Absehbar war es ja schon lange, dass diese kleine, feine, ja diese eine wirkliche Oase, die die baden-württembergische Landeshauptstadt zu bieten hatte, nicht bestehen würde. Die Fläche ist schon immer Teil des Bauprojekts Stuttgart 21 gewesen, je näher das Projekt rückte, desto lauter wurden die Gerüchte, dass „dieser Sommer nun wirklich der letzte sein wird“. Jedes Mal wurde der Mietvertrag dann doch wieder um ein weiteres Jahr verlängert. Nur dieses Mal nicht.
Zwar sind die Waggons nicht Ende Januar abtransportiert worden. Doch ob es nun Ende Februar oder März wird: im Sommer wird die Künstlergemeinschaft „Bauzug 3YG“ den Nordbahnhof verlassen haben.
Vergänglichkeit verleiht diesen Orten einen Zauber
Provisorische Projekte zur Zwischennutzung frei stehender Flächen haben ihren eigenen Charme. Man denke an die Radio Bar am Rotebühlplatz, die im Juni 2000 schließen musste, die früheren Standorte des Rocker 33 oder auch die Wagenhallen, deren Macher inzwischen jedoch in Fünfjahresschritten planen dürfen. Ihre Vergänglichkeit verleiht diesen Orten einen Zauber, macht sie zum Inbegriff der Horaz’schen Carpe-diem-Aufforderung: Nutze den Tag, nutze deine Zeit, warte nicht auf das, was kommen könnte. Im Frühjahr des vergangenen Jahres hat die Künstlergruppe noch mal so richtig aufgefahren, eine Manege mit Holztribüne gezimmert und ein großes Zirkusfestival veranstaltet – obwohl die Zeit knapper und knapper wurde. Ob sich Dinge lohnen, wurde hier nie gefragt. Alles lohnt sich. Für den Moment.
Ich sitze mit Aurèle Mechler und Sebastian Scherbaum – der eine unter anderem Maler, Grafiker und Illustrator, der andere unter anderem Kulissenbauer, Installationskünstler und Akustikfreund – in Sebastians Waggon. Der Holzofen knackt, draußen ist es grau und trist. Konfettireste, hier und da eine leere Flasche und die nur noch müde vor sich hinglimmende Glut in einer alten Öltonne erinnern an das Fest vom Vorabend. Eines der letzten.
Sebastian und Aurèle schauen aus dem Fenster, auf den Ort, an dem sie die vergangenen Jahre gelebt haben. Eine Küchenecke hat Sebastian in seinem Waggon, ein Bett, einen Arbeitsplatz, einen Esstisch. Jeder der hier lebenden Künstler hat sich seinen Wagen nach seinen Bedürfnissen gestaltet. „Mein Vater hat das erst nicht glauben wollen“, erzählt Aurèle. In einem Waggon leben? Ohne fließend Wasser? Ohne Zentralheizung? Unvorstellbar. Dann habe er ihn besucht. „Und war ganz begeistert: sei ja doch irgendwie gemütlich hier.“
Zum Abschied hat die Künstlergemeinschaft einen bunten Katalog drucken lassen. Rund hundert Seiten voller Fotos und Erinnerungen. Ohne Inhaltsverzeichnis und ohne Seitenzahlen. Der Katalog ist eine Entdeckungsreise, so wie jeder Besuch bei den Waggons eine Entdeckungsreise war.
Auf der ersten Seite ein schlichter Satz: „Ein einfacher Zweig ist dem Vogel lieber als ein goldener Käfig.“ Treffender hätte man den Geist dieses Areals kaum zusammenfassen können. Luxus gibt es keinen – dafür Freiheit. Diese Freiheit war es, die uns Besucher immer wieder auf das Gelände gelockt hat. Gibt es einen romantischeren Ort, um nach einer Silvesternacht zum ersten Mal im neuen Jahr die Sonne aufgehen zu sehen? Gewärmt vom Feuer einer alten Öltonne, leicht schmerzende Beine vom Tanzen, einen Rest Glitzerstaub im Gesicht und ein leises Sausen in den Ohren. In ebenjenen Kleidern, auf die man Lust hatte – Jogginghose, Clownskostüm oder Cocktailkleid.
Was hier am Nordbahnhof entstanden ist, hätte in Stuttgart wohl kaum einer für möglich gehalten: ein kunterbuntes, sympathisch-chaotisches Paradies mitten in der Hauptstadt der Häuslesbauer. Eine lebendige Unschärfe im sonst so cleanen Stadtbild. Kunst ja, elitäre Spielregeln nein. Musik ja, massentaugliche Konservenklänge nein. Party ja, Kontroll- und Konformitätszwang nein. Wer hier sein Bier selbst mitgebracht hat, wurde dafür nie vom Gelände verwiesen.
„Wenn einer kein Geld hat, sich bei uns was zu kaufen und sich seine Getränke selber mitbringen will – soll er doch. Hauptsache, er ist da“, sagt Aurèle. Und egal, was für ein Konzert, was für eine Ausstellung oder welche Performance gezeigt wurden – die Atmosphäre war immer eine besondere. Nach zwölf Jahren werden die Waggons nun vom Gelände rumpeln. Sie hinterlassen eine Lücke. Rund 30 Künstler verlieren ihren Arbeits- und Lebensraum. Und so mancher Stuttgarter sein liebstes Refugium.
Stuttgart war schon immer reich
In Stuttgart hat man es ansonsten ja schwer, kreative Unterhaltung zu finden. Berlin sonnt sich in seinem Arm-aber-sexy-Charme. Stuttgart war schon immer reich. In Horden zogen und ziehen die Kulturschaffenden nach Berlin. Und wer zieht nach Stuttgart? Für Hans Christ, den Direktor des Württembergischen Kunstvereins, ist das Ende der Waggons ein tragisches Kapitel unserer Kulturgeschichte: „Stuttgart stürzt in kürzester Zeit in die völlige Provinzialität zurück, vertreibt die jungen, kreativen und hier vor Ort teuer ausgebildeten Menschen aus der Stadt und wundert sich im Nachhinein, warum hier keiner mehr aus dem ICE steigt, um auf eine kulturelle Entdeckungsreise zu gehen.“ In seiner Stellungnahme schreibt Christ weiter: „Kulturelle Vielfalt zeigt sich eben nicht in zum Museum aufgepumpten Autohäusern, in denen Eigenwerbung mit kultureller Nachhaltigkeit verwechselt wird.“
Kunst entsteht, wo Platz für Kunst ist. Platz zum Denken und zum Handeln. Stuttgart ist eng. Im Kessel gibt es wenig Freiräume. Wer hingegen einmal mit offenen Augen durch Berlin spaziert, spürt, was für eine Energie auf Brachflächen entstehen kann. Doch wie soll etwas Andersartiges geschaffen werden, wo schon alles zugebaut und vorgeplant ist? „Was wir hier hatten, war einmalig“, sagt Aurèle. Auch aus Berlin kamen Gäste zu den Waggons, unter anderem die Macher der berühmten „Bar25“ – eine Freiluftbar am Spreeufer. „Alle waren begeistert“, sagt Aurèle.
In die Theke im hintersten Waggon hat jemand einen Auszählreim geritzt: „Ene mene meck, wir sind bald weg“, steht in krakeliger Schrift im Holz. Jeder, der ein Bier an dieser Theke kauft, kann es lesen. Verdrängt wird nicht. Lethargisch getrauert auch nicht. Die Künstler wollen keinen miesepetrigen Abschied, sondern ein großes, lautes, fröhliches Finale.
Und danach? Man ist in Gesprächen mit der Bahn – deren „konstruktive Atmosphäre“ beide Seiten immer wieder betonen. Das Gelände der ehemaligen Zuckerfabrik in Bad Cannstatt ist als Ausweichort im Gespräch. Ob das eine zufriedenstellende Lösung sein kann, wird zurzeit geprüft. „Ich bin mir sicher, dass es irgendwie weitergehen wird“, sagt Aurèle. Noch wehe durch Stuttgart ein frischer Wind.