Stuttgart (DPA) Stuttgart verliert schon bald eine chaotische kleine Welt, ein Refugium, einen seiner charmantesten Orte. In rund 20 ausrangierten Eisenbahnwaggons am Nordbahnhof hat sich die Kunstszene mit Ateliers, Bühnen, Wohnungen und Bars auf ihre ganz spezielle Art eingerichtet. Jetzt kommen sie weg. Sie müssen Stuttgart 21 Platz machen. Auf der Baulogistikfläche des umstrittenen Megabahnhofs ist kein Platz für die Kunst. Merkwürdig: Der Szene ist das gar nicht so unrecht. Denn bald ist Landtagswahl – und da werden viele Wünsche der Künstler für einen neuen Platz erfüllt.
Das Gelände gehört der Stadt, die Bahn hat das Nutzungsrecht. Seit 1999 leben und arbeiten dort rund 40 Künstler. Dass man den Platz und die Waggons früher oder später räumen musste, war allen klar, berichtet Marco Trotta, Sprecher der Ateliergemeinschaft „Bauzug 3YG“, einer Untergruppierung des Vereins Studentisches Projekt für soziale Einrichtungen (Stups). Der Mietvertrag war – mit Blick auf Stuttgart 21 – jeweils nur kurzfristig verlängert worden. Doch dann ging es plötzlich sehr rasch.
Ende Januar müssten die Künstler raus, hieß es erst. Jetzt ist der 28. Februar im Gespräch. Bis dahin muss das Gelände mit dem einzigartigen Untergrund-Charme entmüllt und jeder Waggon der bei Eisenbahnfans legendären Baureihe „3YG“ geräumt sein. Jeder hat sie nach seinen Bedürfnissen eingerichtet. Vor den verzierten bunten Waggons liegen alte Gartenmöbel, rostige Fahrräder, Holzpaletten. Schrott könnte man sagen. Mal mehr, mal weniger Künstler tummeln sich auf dem Platz, einige wohnen hier sogar – ohne Zentralheizung.
„Wir hatten eigentlich bis Sommer geplant“, sagt Trotta. Insofern sei das Ganze jetzt schon nicht so einfach. Doch erstaunlich viel Rückenwind gebe es für die Suche nach einem neuen Platz – von der Bahn und allen Parteien im Gemeinderat. Es ist ja bald Wahl – „und da will sich natürlich keiner zum Buhmann machen“, sagt Trotta.
Negative Schlagzeilen wegen Stuttgart 21 will niemand mehr haben. „Unser Bestreben ist es, den Künstlern zu helfen“, stellt Bahn-Bevollmächtigter Eckard Fricke fest. Stuttgart-21-Sprecher Udo Andriof spricht vom „wichtigen Signal“, wenn sich die Bahn mit den Künstlern an einen Tisch setze. Rascher als erwartet wurde ein neuer Platz gefunden. Das Gelände einer ehemaligen Zuckerfabrik im Stuttgarter Stadtteil Münster ist zwar längst nicht die erste Wahl der Künstler. „Aber es ist kein schlechtes Angebot“, betont Trotta.
Größter Nachteil: die Entfernung. Zum Nordbahnhof kommt man von der Innenstadt aus schnell zu Fuß. „Aber wer kommt schon für 20 Minuten Performance raus nach Münster?“ Das Aus für die Gemeinschaft? „Einige werden nicht mitkommen“, sagt Trotta. Eine Kopie des Alten, des Liebgewonnenen, wird es nicht geben. „Da entsteht etwas Neues, mit all den Chancen, die dazugehören.“
So stellt die Bahn 15 ausrangierte Waggons des gleichen Typs direkt auf das neue Gelände. Die alten haben schon seit 1999 keinen TÜV mehr und dürfen nicht über die Gleise gezogen werden. Alle bis auf zwei Waggons landen somit in der Schrottpresse – die ist ja nicht weit.