Stuttgarter Zeitung 28.11.2019
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Die Künstlersiedlung in ausrangierten Waggons am Stuttgarter Nordbahnhof wird 20 Jahr alt. Verborgen in der innerstädtischen Wildnis neben den Gleisen der historischen Gäubahn blüht eine bunte Kreativszene – auch wenn die Zukunft stets ungewiss ist.
Stuttgart – Sie hat sich eingerichtet im Innern eines alten Eisenbahnwaggons, sie experimentiert mit ganz entlegenen Materialien: da steht eine Toilettenschüssel, dort liegen Badezimmermatten, hängen Bahnen aus Stoff und Papier. Laura Oppenhäuser ist Figurenspielerin, Performerin, entwickelt im Gastatelier der Künstlergruppe Bauzug 3YG am Stuttgarter Nordbahnhof einen Soloauftritt, will den Perfektionswahn der Gesellschaft hinterfragen.
„Ich habe das Gefühl, dass man ruhig mutiger und risikobereiter sein kann, im Leben“: Das sagt Laura Oppenhäuser über ihre Arbeit, und sie sagt es am rechten Ort. Der Bauzug 3YG, die Künstlersiedlung in den ausrangierten Waggons des Stuttgarter Nordbahnhofs, wird bald, am 14. Dezember, das 20-Jahr-Jubiläum seiner Gründung feiern. Verborgen in der innerstädtischen Wildnis neben den Gleisen der historischen Gäubahn, über die am 10. April 1917 Lenin in einem anderen, plombierten Wagen von Zürich nach Sankt Petersburg reiste, ist der Bauzug 3YG ein Wunderland des Unvollkommenen, eine Insel, auf der sich die Kreativität noch frei und zwanglos, jenseits aller normativen Zwänge entfalten kann.
Die Eisenbahnwaggons kauern im kniehohen Gebüsch, werden überragt vom ausladenden Grün der Bäume, sind bemalt mit blätternden Farben und den rätselhaften Kalligrafien des Graffiti; sie balancieren irgendwo auf der Grenze zwischen Natur und Zivilisation, dort, wo Kunst und Leben noch zusammen gehören und Visionen erprobt werden können.
Etliche Künstlerinnen, Künstler waren in den vergangenen Jahren zu Gast im Residenz-Waggon des Bauzugs, arbeiteten dort über Wochen, Monate, und präsentierten zuletzt eine abgeschlossene Arbeit.
„Raumstation“ haben die Künstler vom Nordbahnhof ihr Gastatelier getauft, eine Website unter diesem Namen gibt Auskunft über Laura Oppenhäusers lange kreative Ahnengalerie. Oppenhäuser, studierte Figurenspielerin, Stuttgarterin und in unterschiedlichen Kunstzusammenhängen der Stadt aktiv, wird ihr Atelier zuletzt wieder räumen, anderen Künstlern Platz machen – jene, die in den Waggons kontinuierlich arbeiten, die Residenzkünstler praktisch begleiten, werden bleiben. Die Frage, wie lange, steht aber im Raum. Denn, natürlich: am Nordbahnhof wird gebaut. Nicht weit vom Künstlerdorf entfernt klafft der „Zwischenangriff Nord“ im Erdreich auf, eine der Baustellen des Projekts S21. Im Jahr 2014 ließ sich Lilith Becker dort bei einer Performance – über den freigelegten Saiten eines alten Konzertflügels schwebend – von Bauarbeitern mit einem Kran absenken, bespielte so als erste Künstlerin, lange vor Schorsch Kamerun, die berühmte Baustelle.
Ein gutes Dutzend weiterer Kreativer arbeitet derzeit ständig in den Waggons – neben Lilith Becker gehören auch Elisa Bienzle, Frédéric Ehlers und Martina Wegener zu ihnen. Der Bauzug 3YG ist fünf Jahre älter als der Kunstverein Wagenhalle, der wenige Schritte weiter am Nordbahnhof liegt; einige Künstler wechselten irgendwann von hier nach dort. Die Beziehung zwischen beiden Orten ist über die Jahre hin gewissermaßen osmotisch geblieben – aber die Waggons sind die kleinere Form, in der künstlerische Anarchie noch wunderbar flüssig funktioniert.
Viele Künstler, die längst Anerkennung genießen – die Filmemacherin Andrea Roggon, der Musiker Levin goes Lightly sind nur zwei Beispiele – fanden dort zu sich selbst, viele Projekte wiederum fanden von den Waggons ihren Weg hinein ins Stuttgarter Kulturleben. Die „Gräfin“, jenes greise divenhafte Puppenwesen, das seit nun fünf Jahren im Figurentheater Fitz vor sich hinschimpft, triumphiert, lange schon ein Publikumsliebling ist, wurde in den Waggons geboren. Stephanie Oberhoff, einst Bewohnerin des Residenz-Waggons, führt die Drähte, an denen sie hängt, Lilith Becker musiziert dazu.
Ursprünglich beherbergten die Waggons eine Kolonie anderer Art. Ihren Namen verdanken sie den dreiachsigen Umbauwagen der Gattung 3yg, die von der Deutschen Bahn nach 1953 in Betrieb genommen wurden. Zu jener Zeit herrschte ein Mangel an Personenbeförderungswagen bei der Bahn. Die ließ systematisch Fahrgestelle der Vorkriegszeit mit neuen Wagenkästen aufrüsten, um Abhilfe zu schaffen. In den späten 1970ern zog die Bahn die Wagen wieder aus dem Verkehr, rüstete sie zum Teil zu Bahndienstwagen um – und am Nordbahnhof entstand eine Dorfgemeinschaft aus Bahnarbeitern, mit Kneipe, Wohn- und Schlafwaggons.
1998 schließlich kam das Ende des Dorfes in der Stadt, die Waggons sollten verschrottet werden – aber das „Studentische Projekt für soziale Einrichtungen“, kurz Stups e.V., schritt ein, erwarb die Waggons zu einem symbolischen Preis.
Der Bauzug 3YG war geboren und schwebt seither über einem anderen Abgrund, den Stuttgart 21 aufriss. „Wir haben ein Zukunftsproblem“, sagt Lilith Becker. „Die Stadt hat sich noch nicht eindeutig dazu bekannt, dass sie uns übernehmen wird.“ Die Ateliergemeinschaft der Waggons am Nordbahnhof bezahlt Miete, erhält für ihren Residenzwaggon einen jährlichen Zuschuss der Stadt, weiß alle Akteure des Stuttgarter Kulturlebens auf ihrer Seite, wusste in der Vergangenheit aber oft nicht, wie es weiter gehen würde. Einem feststehenden Gebäude, das zum Bauzug gehört und unentbehrlich ist für die Infrastruktur der Waggons, droht vielleicht der Abriss; von ursprünglich 25 Waggons sind am Ort nur noch zehn erhalten, zwei wurden zur Wagenhalle versetzt, die übrigen verschrottet.
„Es wurde gekämpft, es wurde verhandelt, es wurde geweint, es wurden Abschiede gefeiert“, so heißt es in der Einladung zum Jubiläumsfest: „Aber der seidene Faden, an dem die Existenz der Waggons zu hängen scheint, erweist sich als robustes Stahlseil, geflochten aus der unendlichen Hingabe der Ateliergemeinschaft, dem weitverzweigten Netzwerk der Kulturschaffenden und einem einzigartigen wundervollen Publikum.“ Und weiter: „Die Waggons sind eine Perle der Stuttgarter Kulturlandschaft.“ Dass diese Perle manchmal erzittert, nicht etwa, weil wieder eine Abrissbirne winkt, stört die Künstler nicht – sie sind sich einig: „Die vorbeifahrenden Züge sind romantisch.“