Das Viertel
Es ist verstörend, wenn es im Winter nie schneit. Der Januar geht dem Ende zu, und der Schnee hat die Stadt kein einziges Mal so verhüllt, dass man eine Weile ihren Schmutz hätte vergessen können.
Herrgott, wenn die Floskel vom grauen Alltag etwas Wahres birgt, dann in diesem Winter. Der Spaziergänger hätte Freude am Schnee, der Schnee könnte seine angeborene Orientierungslosigkeit vertuschen. Ist die Stadt weiß bedeckt, findet sich leicht eine Ausrede für einen, der ständig Ost mit West und Süd mit Nord verwechselt. Mir passiert es, dass ich mitten in der Stadt in die falsche Straße einbiege, ein Haus oder einen Platz nicht finde, obschon ich Dutzende Male da gewesen bin. Zum Glück berichten größere Geister von einer solchen Behinderung, und von ihnen habe ich gelernt, warum es Vorteile hat, sich zu verirren. Warum es gut ist, die Weite zu suchen. Das Leben wird als Zielloser aufregender auf dem Weg zum Ziel, das man Ende nennt.
Gewisse Leute sind stolz auf ihre „Stoßrichtung“. Ich bin stolz, wenn ich die Waggons der verbliebenen Künstler am Nordbahnhof finde. Neulich war ich wieder dort, erinnerte mich, wie ich die Waggons vor zwölf Jahren entdeckte. Es war ein Sonntag, es lag tiefer Schnee, ich stapfte stundenlang herum. Die ausrangierten, bunt besprühten Eisenbahnwagen nicht weit vom Pragfriedhof und von den Backsteinhäusern wirkten danach wie die Kulisse eines apokalyptischen Films. Scheinbar nutzlose Dinge standen herum, eine Flugmaschine, kaputte Bildschirme, rostige Drahtfiguren. An diesem kalten Tag traf ich keine Seele, ich blieb mit meiner Orientierungslosigkeit allein.
Die Künstlerkolonie in der Nachbarschaft der Wagenhallen mit ihrem heutigen Event-Betrieb ist einst am Rand von Stuttgart 21 entstanden. Als das Wahnsinnsprojekt stockte, öffneten sich Räume für Mutige mit Fantasie.
Jetzt komme ich erneut an einem Sonntag, und diesmal treffe ich an den letzten Waggons den Künstler Locke. Ich erkenne ihn nicht gleich, aber es ist der Mann, der uns im Sommer 2011 als Graffiti-Artist beim großen Zeitungsstreik unterstützte. Die verbliebenen Nordbahnhof-Künstler bekommen seit Jahren von der Deutschen Bahn Kündigungen, und einige können dennoch bleiben, weil Stuttgart 21 nicht wie geplant vorankommt. Locke sagt, eine Reihe der Wagen sei vielleicht generell mit einem Zaun vor S 21 zu schützen. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.
Die Schrottberge des Recycling-Unternehmers Karle sind verschwunden, zur Trauer der Hinterbliebenen auch der Waggon des Vereins für Flüssigkeiten und Schwingungen (FFUS). In diesem Karren hat Moritz Finkbeiner auf engstem Raum große Konzerte veranstaltet. Zum Glück fand er im Theater Rampe eine neue Bühne und ist auch sonst aktiv: Am kommenden Montag (21 Uhr) präsentiert er im Tonstudio an der Ecke Theodor-Heuss-Straße/Lange Straße den großartigen Sänger/Songschreiber Steve Gunn aus Brooklyn, New York.
Die Waggon-Kolonie im sogenannten Inneren Nordbahnhof ist noch immer ein Lehrbeispiel für viele, die beim Blick auf jede nicht subventionierte Kneipenbühne von „Subkultur“ reden, weil sie nicht wissen, was das ist. An der Eisenbahnbrücke über den kleinen Wohnhäusern, welche die Bahn jetzt für ihre Bauarbeiten beansprucht, führt ein schmaler Weg zu den Waggons hinauf, wo jahrelang etwas gewachsen und untergegangen ist. Die Kolonie blieb fast immer unbeachtet, wenn auswärtige Reporter ihre Klischees vom Stuttgart-21-Protest des ewig schwäbischen Spießers verbreiteten.
Unsereins, der oft den Weg nicht findet, geht immer wieder staunend durch die Straßen am Nordbahnhof, weil er nicht begreifen kann, warum sich diese Gegend nie zu einem Viertel urbanen Lebens entwickelt hat. Alle Voraussetzungen waren vorhanden: die Künstler, die Architektur, die Kneipenstraße entlang der Stadtbahngleise.
Und überall Geschichte. Am Nordbahnhof steht die Gedenkstätte für die jüdischen Bürger, die man von Stuttgart aus in die Vernichtungslager der Nazis deportierte. Am Nordbahnhof ist der Galgenbuckel, wo man 1738 den jüdischen Kaufmann Joseph Süß Oppenheimer hingerichtet hat. Inzwischen haben die Abrissarbeiten für Stuttgart 21 begonnen, die blauen Wasserrohre und die Baulastwagen zeigen die Stoßrichtung einer Politik, die den Charakter der Stadt zerstört. Es ist die Stadt, die Quartiere wie das Bohnenviertel oder das Gerberviertel nie zum Leben erweckt hat. Die das zentrale Leonhardsviertel verkommen lässt.
irgendwo hat sich ein urbanes Viertel entwickelt, das diesen Namen verdient. Nicht zufällig liegt Stuttgarts bekannteste Bar-Meile an einer Stadtautobahn, auch wenn selbst in diesem Fall der stadtplanerische Zufall nachhelfen musste.
Joe Bauer, Stuttgarter Nachrichten, 23.01.2014