Stuttgart – Die Tage der Künstler-Waggons am Nordbahnhof sind gezählt, die Bewohner müssen Stuttgart 21 weichen. Ein einzigartiger kreativer Ort verschwindet. Im Winter 2002 war ich zum ersten Mal dort. Die Zeilen von damals zur Erinnerung:
Es ist vieles verboten an diesem Ort. ,,Unbefugten“ das Betreten des Weges, und denen, die ihn dennoch betreten, das Überqueren der Gleise: „Prekoracenje kolosjekov – Es prohibido de cruzar las vias – E proibito attraversare i binari“. Kein Mensch könnte mich hier aufspüren, es gibt nirgendwo Lebenszeichen, außer frischen Fußspuren im Schnee.
Ich bin, bei Sonnenlicht betrachtet, im farbigsten Hinterhof der Stadt gelandet, nirgendwo ist einem das Fremde näher. Sonntagmittag am Nordbahnhof, bei den prächtigen monumentalen Eisenbahnbrücken. Bevor ich zu den Brücken ging, war ich an der Haltestelle Mittnachtstraße aus der Bahn gestiegen. Der Straßenname gefällt mir, er klingt nach Midnight Gambler. Tatsächlich gibt es hier ein Wettbüro, die Straße aber ist nach einem Politiker benannt: Dr. Hermann Freiherr von Mittnacht, Ministerpräsident von 1870 bis 1900, auch Chef des Außenministeriums, demnach einer wie Joschka Fischer, nur mit besserem Leumund.
Wo das Überschreiten der Gleise verboten ist, sieht es aus wie nach einem Eisenbahnüberfall. Die Leichen vergraben, die Überlebenden geflohen. Auf den Gleisen Schrottwaggons, einer mit Satellitenschüssel, ein anderer mit Anspruch auf Exklusivität: „Reserviert für Charly“. An der Brücke hängt ein Flugzeug, geeignet für irgendeinen ausgeflippten Schneider von Ulm.
Die Geschichte der Waggons, ihrer Bewohner werde ich an dieser Stelle nicht erzählen. Soll die stillgelegte Welt ihre Geheimnisse behalten, bis eines Tages die Aufräumer kommen. Vor den bunten Eisenbahnwagen liegen Konservendosen, Fernseher, ein Fahrrad. Schrebergartenmobilar, womöglich zurückgelassen auf der Flucht vor Banditen und S-21-Planern. An einer Mauer hängen Briefkästen, auf einem steht: „Sammelpost Business Plaza Stuttgart North“. Es herrscht Stil im Revier.
Nahe der Wagenburg ein evakuiertes Haus mit Eiszapfen an der Dachrinne, jemand hat ein Schild angebracht: „Stuttgart 22“. Humor auf der dunklen Seite des Quartiers, fern der Nordbahnhofstraße mit ihren Kneipen, wo die Halbe Bier zwei Euro und der Schnaps einssechzig kosten.
Als ich klein war, hätte ich gern in einem Eisenbahnwagen gewohnt. In Erich Kästners Buch „Das fliegende Klassenzimmer“ gibt es einen seltsamen Typen. Die Kinder nennen ihn ,Nichtraucher‘; er lebt in einem alten Nichtraucherabteil und raucht seine Pfeife vor der Tür. Diesen Mann, einen Anti-Spießer, hat Sebastian Koch aus Obertürkheim in einem Kinofilm gespielt.
Ich kann mich an eine Familie in meinem Heimatdorf erinnern, die noch lange nach dem Krieg in einem Eisenbahnwagen gewohnt hat; irgendwann haben diese Leute um ihren Waggon herum ein kleines Haus mit festen Mauern gebaut.
Ich verlasse die Gleise, gehe zurück. An der Kirche neben der Zufahrtstraße zum Friedhof („frei für Gärtner und Leichentransport“) erinnert ein Schild daran, wie jüdische Opfer „unter den Augen der evangelischen Martinsgemeinde“ in die Vernichtungslager der Nazis deportiert wurden.
Die toten Gleise am Nordbahnhof führen zu vielen Geschichten. Die Unbefugten wissen, was da läuft. Wo ist Charly?