Nordbahnhof Trotz absehbarer Räumung ist die Künstlerkolonie noch aktiv. Von Michael Schoberth
Erst sollten sie gehen, dann durften sie bleiben. Dann hieß es kurzerhand wieder, sie müssten weg – am Ende blieben sie doch. Die Künstler vom Nordbahnhof, die in ausrangierten Waggons ihre Ateliers eingerichtet haben, leben in einem schwebenden Zustand. Jederzeit könnte der Kolonie die endgültig letzte Stunde schlagen. Denn die Deutsche Bahn, die Eigentümerin des Geländes ist, will hier für Stuttgart 21 bauen. Fast hätten die Künstler die Waggons im Februar binnen zwei Wochen räumen müssen. Doch die Bauarbeiten verzögerten sich. So blieb es bisher und die Künstler sind immer noch da. Es sind sogar neue angekommen.
Seit 1999 arbeiten Stuttgarter Kreative in den Waggons. „Es ist ein wenig zermürbend, wenn man nicht genau weiß, wie lange man noch hier sein kann“, sagt Aurèle Mechler vom Verein der Waggon-Künstler, der Arbeitsgemeinschaft Bauzug 3yg. Er schätzt, dass die jetzigen Mieter noch ein halbes Jahr bleiben können, vielleicht sogar noch ein ganzes Jahr: „Die Lage ist unklar.“ Doch die Künstler ergreifen die Chance und arbeiten weiter, so lange es geht. Momentan nutzen 25 von ihnen, die 16 Waggons, die einst zu einem Bauzug gehörten. Diese sind als Arbeits- und Veranstaltungsräume gedacht, von einer Tonwerkstatt bis zur Gießerei gibt es in ihnen fast alles.
Dass in den Waggons immer noch Kunst gemacht wird, ist der Beharrlichkeit der Bewohner zu verdanken, sagt Mechler. So hat der Verein die Waggons von der Bahn gemietet und vermietet sie weiter an die einzelnen Künstler. „Unsere günstigen Mieten sind attraktiv für Leute, die einen Raum zum Arbeiten suchen.“ Freie Waggons sind immer schnell wieder vermietet. „Die Nachfrage ist groß.“ Die Wagen ermöglichen viele Freiheiten zur Gestaltung. Doch man braucht ebenso viel Engagement und Eigeninitiative. Die Waggons müssen ausgebaut werden, in ihnen ist es im Sommer häufig sehr heiß und im Winter sehr kalt. Geheizt wird dann mit Holzöfen.
Außerdem hat die Bahn immer wieder Anforderungen gestellt. Die „Waggonisten“ haben daraufhin wie gewünscht Zäune aufgebaut und andere abgerissen, Waggons verschoben und sie mit Hilfe von Kränen auf andere Gleise gesetzt. „Wir haben immer alle Vorgaben der Bahn erfüllt und die Bahn hat deshalb mittlerweile großes Vertrauen zu uns entwickelt“, sagt Mechler. So sind gute, persönliche Kontakte zu den Bahnverantwortlichen entstanden. „Wir wollen lösungsorientiert arbeiten. Wir sind ja Mieter und keine Besetzer.“ Die Übergangszeit nutzen viele Künstler, um ihren Umzug zu organisieren. „Das kann man nicht übers Knie brechen.“
Denn momentan ist das Nachfolgeprojekt namens Umschlagplatz im Entstehen. Ein geeignetes Grundstück ist mit Hilfe der Stadt Stuttgart auf dem ehemaligen Gelände des Güterbahnhofs in Bad Cannstatt gefunden worden. Der Umschlagplatz ist eine Weiterentwicklung, erklärt Marc Trotta, der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Bauzug 3yg. „Wir wollen nicht wieder bei Null anfangen. Unser Netzwerk und das bestehende Potenzial sollen überlebensfähiger gemacht werden.“
Darum soll die neue Künstlerkolonie nicht mehr aus Zugwaggons, sondern aus Containern bestehen. Diese sind mobiler und können bei Bedarf auch schnell an einem anderen Ort wieder aufgebaut werden. Der Mietvertrag für das neue Gelände gilt von Januar 2012 an und läuft zwei Jahre. Mittlerweile wollen 30 Künstler auf dem Umschlagplatz aktiv werden, 20 von ihnen haben einen Verein gegründet. So sollen längerfristige Planungen möglich und neue Strukturen aufgebaut werden, erklärt Trotta. „In Bad Cannstatt wollen wir nun eine klare Situation schaffen.“